Das Gänseblümchen

„Hallo?

Hallooo? Ist da jemand? Irgendjemand? Irgendwer oder irgendetwas? Sieht mich denn niemand? Jemand? Irgendwer? Da schaut her! Ich bin ja hier, direkt unter euch! Seht ihr mich denn nicht?“

„Nein meine Kleine, sie sehen dich nicht. Sie sehen dich heute nicht, sie haben dich gestern nicht gesehen. Vor einer Woche sahen sie dich schon gar nicht.  Vor Jahren, ja, vor Jahren liebten sie dich, aber heute, nun ja, heute haben sie dich vergessen. Aber lass deine Köpfchen nicht hängen, morgen vielleicht,  ja vielleicht schon morgen werden sie sich an dich erinnern!“

„ Ach! Guten Morgen lieber Löwenzahn, ich wollte dich nicht wecken! Es ist nur, na du weißt schon…“

„ Ja, ich weiß mein liebes Gänseblümchen! Du hast mich nicht geweckt, es war der Tag! Und wie mir scheint müssen wir heute wieder Ausdauer zeigen, unsere Blüten offen halten, denn die Sonne hat keine nennenswerten Gegner am Himmel und nach Gewittern dünkt es mir auch nicht! Aber dir macht dies ja nichts aus, unermüdlich reckst du deine Blüten zur Sonne und ermüdest nie! Eine kleine Kämpferin bist du, ja ja, wahrlich ein Stehaufmännlein, hihi, oder Weiblein!“

„ Hihi! Da hast du recht lieber Nachbar! Nütze den Tag, carpe diem, kannst du dich noch erinnern, damals, im alten Rom? Das waren wilde Zeiten! Wahrlich ein gescheider Bursch war er, dieser Horaz! Doch ihn haben sie nicht vergessen, immer noch höre ich sie darüber philosophieren! Filme wurden darüber gedreht, Auszeichnungen hat es gegeben! Aber was lernen sie daraus? Mehr Fitnesstudio, mehr Arbeit, mehr Leistung anstelle von Zurück zum Ursprung, Natur pur und back to the rudes und wie das heute auch immer heißen mag! Und ich steh immer noch da, an mich denkt heute niemand mehr! Und all ihre Bestrebungen, all ihre Wünsche liegen direkt vor ihrer Nase, doch keiner sieht wirklich hin. Dabei sind wir so viele! Und ständig trotzen wir allem: der Kälte, dem Rasenmäher, dem Niedertrampeln, dem Einfachnichtbemerktwerdenweildiesindsowiesoda! Nicht einmal der Schnnee betrübt mich, ich liege einfach unter ihm und warte geduldig bis er wieder schmilzt, um erneut mit meinen Blüten Diesen eben Jenen Freude zu bereiten!“

„ Das weiß ich doch alles meine Liebe, nichts anderes wünscht du dir mehr! Dein Tag wird kommen, so voller Tatendrang und Optimismus wie du bist kann dich nichts und niemand aufhalten!“

„Himmel Herrgott, geht das jetzt schon wieder los? Jeden Tag die selbe Leier, ich kann es schon nicht mehr hören! Geh tut’s mir doch den Gefallen und wachst an einer anderen Stelle weiter, sehr viel weiter, denn dieses Gesülze hält ja keiner mehr aus! Gib es einfach auf Gänseblümchen, du bist was du bist, eine Selbstverständlichkeit, und indem du dich so anbiederst wirst du auch nicht gerade interessanter!“

„Ach guten Morgen liebe Rose! Ich habe gar nicht gemerkt dass du auch schon munter bist! Geh sei doch nicht so kratzbürstig, der Löwenzahn und ich haben uns doch bloß unterhalten! Und überhaupt ist es ein sonniger Tag, der Himmel ist blau, freue dich doch einfach!“

„ Mein kleines dummes naives Kraut, immer adrett und immer gut gelaunt! Der heutige Tag bringt nichts an dem ich mich erfreuen könnt. Die Sonne wird ihre Strahlen erbarmungslos auf meine Blätter schicken, durstig werde ich sein, Knospen soll ich bilden um dann zu erblühen um eben Diesen und Jenen zu gefallen. Die Läuse wetzen bereits ihre Messer und ich soll dabei stets stolz und edel erscheinen. Mir ist gar nicht danach! Ich werde ein wenig Anthocyan in meine Blätter schicken, dann wirst du schon sehen wie eben Diese und Jene Beine bekommen. Wer kann denn mit einer Rose, deren Blätter rot und fleckig werden, noch brillieren? Hastig kommt sie dahergelaufen, die fleißige Gärtnerin, um nach ihrer lieben illustren Rose zu sehen! Und dich? Dich wird sie sehen, ja dieses eine Mal sieht sie dich und reißt dich aus und du endest im besten Fall auf dem Kompost, wo du wie so oft wiedergeboren wirst!“

„jetzt sei doch nicht so stachelig Frau Nachbar! Sieh was du schon wieder angerichtet hast! Das bisschen rosa das sie hatte verliert sie gleich wieder ob deiner Kratzbürstigkeit. Geh komm meine Liebe, sie meint es doch nicht so! Richte dich wieder auf, das Glas ist halb voll und so weiter, wo bleibt dein Optimismus?“

„ Mein geschätzter Herr Löwenzahn, ich sagte nichts, was nicht der Wahrheit entspricht! Außerdem hast du leicht lachen mein Lieber, dich kann man eine Trilliarde Mal ausreißen, doch dein Ende erwischt man nie! Dich bemerkt Dieser und Jener sehr wohl, bist auch Platzhirsch genug! Kleines Gänseblümchen, lass dir eines gesagt sein: dein Nachbar hat leicht reden, so hartnäckig wie Der ist übersieht ihn niemand! Dann reden eben Diese und jene ihn sich halt schön: Bitterstoffe, tut Leber und Galle gut, ist ja wurscht was ich esse, hab den Löwenzahn im Garten! Und wenn ich ihn jäte profitiere ich sogar davon! Ja ja, so sind sie eben Diese und Jene! Entweder zeigst du ihnen deine Stacheln oder du verfolgst sie gnadenlos, tief wurzelnd, unausrottbar. Wie dein lieber Nachbar hier, der dir immerzu süße Worte souffliert von wegen: Das packst du schon und aus dir wird wieder eine ganz Große! Deine Tage sind vorüber meine Liebe! Niemand wird sich je auf dich und deine Vorzüge erinnern, du bist zu gewöhnlich geworden, wächst immer und blühst unermüdlich, direkt langweilig bist du geworden! Sieh dich um! Deine Nichtsnutzigen Hybriden, mit großen opulenten Blüten, die verkaufen sich jedes Frühjahr wie die warmen Semmeln. Aber dass du vor ihrer Nase wächst, das bemerkt niemand! Finde dich damit ab und erspare mir dein ach so optimistisches Geschwafel!“

„Das mag wohl so sein liebe Rose, aber so ist eben mein Naturell! Eines ist gewiss, der Tag wird kommen, an dem man sich Meiner erinnert, und dann wird sich zeigen wer von uns beiden die Nase vorne hat!“

„He! Ihr da drüben! Könnt ihr euch nicht leiser zanken? Ihr seid schließlich nicht die Einzigen die Probleme haben! Die Eisheiligen stehen vor der Tür und ich kann nur hoffen, dass sie gnädig sind, ansonsten ist mein Sommer vorbei ehe er auch nur begann! Ihr seid alle drei winterfest, ich hingegen bin eine mediterrane Schönheit, gehöre gar nicht da her, an diesen unwirtlichen Ort. Den gesamten Winter fristete ich im Keller, am Existenzminimum, mein Leben am seidenen Faden, vollkommen hilflos und abhängig, dem Schutze der Gärtnerin ausgeliefert, allein, machtlos.“

„ Ah ja, die Kübelpflanze. Madame meldet sich zu Wort: Buon giorno, ich bin die Bougonvillea, die Königin des Mittelmeers!“

„ Geh Rose, verspotte sie nicht. Niemand hat sie je gefragt ob sie auf der Terrasse stehen möchte! Nun ist es halt so und wir können ihr doch wenigstens Zuspruch spenden!“

„ Gut gesprochen mein liebes Gänseblümchen! Ich werde meine Löwenzahncommunity befragen, ob wir ausreichend Blaseblumen zum Schutze ihrer Wurzeln bilden können, dann muss nur noch der Wind mitspielen, mehr können wir für sie nicht tun!“

„Ich danke Euch meine Freunde, mit jeder Wurzel in meinem Kübel!“

„So und nun genug Geschwätz, ich muss mich auf den heutigen Tag konzentrieren. Die Gärtnerin kommt bestimmt bald um nach mir zu sehen, und da sollte ich so jämmerlich wie irgend nur möglich dastehen. Dann gibt es Brennesseljauche und liebe Worte, und morgen sehe ich dann weiter. `Kimmp der Tog, bring der Tog`, das habe ich von meiner Tiroler Uroma, ja, das hat sie mir mitgegeben: fürs Leben!“

„Tja mein lieber Nachbar, das sollten wir nun auch beherzigen, die Sonne wandert gen Süden und unser Chlorophyl steckt voller Tatendrang! Es wäre doch ein absolutes no go, wenn wir an unserer location den hot spot versäumen würden, hihi!“

„ Ich höre schon meine Liebe, du gehst mit der Zeit um vorbereitet zu sein! Ich schließe mich dir an und werde mich nun dem Chillen widmen! Doch da schau her, da kommt von weitem ja die Gärtnerin her! Hat wohl das Geraunze ihrer Rose gehört! Duck dich, denn gleich steht sie auf dir!“

„ Danke geschätzter Löwenzahn, doch ich bin vorbereitet, an die Schmach bereits gewöhnt! Und doch,  bestimmt, eines fernen Tages steigt man nicht mehr auf mich drauf, sondern voller Staunen über mich hinweg und dann, ja dann, dann werde ich wieder helfen können. Den Diesen und Jenen, die nach so Vielem streben und dabei das Wesentliche aus den Augen verloren haben, ja dann kommt meine Stunde, eines fernen Tages, ich weiß es, bestimmt….“

„Gänseblümchen!“

„Ja ja, da kommt sie! Flotten Schrittes, gerade auf mich zu! Lass dich hängen Rose, schau erbärmlich drein, die Aufmerksamkeit ist dir gewiss!“

„Gänseblümchen! Nein! Bitte nicht! Ich will nicht mit der Rosacea alleine bleiben, bitte wach auf aus deinen Tagträumen!“

„Jetzt hat sie die Nervensäge entdeckt. Gleich ist sie entwurzelt! Und ich hab meine Ruh, juhu! Der Tag wird ja immer besser! Was trödelt sie so herum? Betrauert sie das Ende des Gänseblümchens oder ist es einfach noch zu früh am Morgen? Was ist denn mit meiner Gärtnerin los? Die braucht wohl eine Brille, hat noch Sand in den Augen! Nun reiß sie schon endlich aus, dieses nervende Kraut. Nächstes Monat kommt eh eine Neue, na los, TU ES!“

„Gänseblümchen bitte! Wach auf, lass mich hier nicht alleine! Bitte!“

„Auf was wartet sie denn, starr sie nicht an! NIMM SIE!“

„Bleib bei mir, oh bitte bleib bei mir! Nanu, das Gänseblümchen steht ja noch! Beinahe scheint es als ob die Gärtnerin zögere. Nein, sie zögert nicht, sie lächelt das Gänseblümchen an! Sie hat es GESEHEN, wahrgenommen, realisiert!

Gänseblümchen! Wach auf, es passiert! Es passiert jETZT! Dein Traum wird wahr, man erinnert sich an dich!“

„Mein Weltbild verändert sich, wir sind dem Untergang geweiht. Das ist das Ende, die Welt geht unter! Apokalypse!“

„Huch, ich habe mich wohl in meinen Träumen verloren! Löwenzahn, mein lieber Nachbar, es war schön hier mit dir! Vielleicht treffen wir uns eines Tages wieder, an einem anderen besseren Ort!“

„Aber Gänseblümchen sieh doch! Sieh die Gärtnerin an! Sie lächelt dich an! Sie erkennt dich jetzt! Heute ist der Tag gekommen, der Tag deiner Wünsche und Träume! Du wirst belohnt und geschätzt für deine Beharrlichkeit, für deine Stärke und für deine sekundären Inhaltsstoffe! Kein Kulturgemüse kann dir das Wasser reichen, das wusstest du schon immer! Ach bei meiner Seele, dass ich das noch erleben darf! Ich…ich weiß gar nicht was ich sagen soll! Hoch sollst du leben liebes Gänseblümchen!“

„Lieber treuer Nachbar! Ohne deiner Hilfe, ohne deiner Löwenkräfte hätte ich es nie geschafft! Ich danke dir dafür, von Herzen!“

Und die Gärtnerin ging, mit einem Lächeln im Herzen und einem Gänseblümchen in der Hand in ihre Küche zurück. Die Rose stehen lassend.

Perplex.

Erschüttert.

Fragend.

 

 

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